DER PIKTORALE IMPULS
Rainer Metzger
2004

 

Seit der Zeit um 1980 sind die Bilder, die Kunst sind, wieder komplizierter als jene, die in Werbung, Propaganda, Information und Dienstleistung ihr Wesen treiben. Davor, fast ein Jahrhundert lang, war das Autonome einfacher als das Heteronome. Zwar galten ein aufgesockeltes Pissoir oder ein schwarzes Quadrat als Speerspitze der Konzeptualität und sicherlich war eine Unmenge an Kompetenz eingeflossen in ihre Darstellung und Gestaltung. Allein, man sah es nicht. Man musste es wissen.

Damit ist es jetzt vorbei. Mit einem Prozess, für den es bis dato keinen besseren Begriff als eben „Postmoderne“ gibt, dürfen sich die Bilder wieder dazu bekennen, dass Sehen etwas mit Denken zu tun hat. Bilder sind nicht nur Illustrationen. Bilder besitzen nicht nur Visualität. Bilder bestehen vor allem aus Piktoralität. Was Piktoralität ist zeigen exemplarisch die jüngsten Arbeiten von Franziska Maderthaner.

In ihnen ist explizit gemacht, dass Bildlichkeit immer schon aus Verdichtung besteht. Das Bild, das präsentiert wird, ist nicht allein das mit den diversen Attraktionen von Farbe und Verfahren ausgestattete Stück Spektakel, der Blick auf eine und in eine Welt optischer Fülle. Das Bild ist vor allem eine Organisationsform, das resolute Zueinander von Sensationen, die immer selbst schon ein Bild waren.

Da wird also ein Modell gebaut, etwa im Maßstab eins zu zehn. Diesem Modell werden diverse Arrangements mitgegeben; es werden Ausschnitte aus Publikationen an die Seitenwände geheftet, es werden Stofffiguren, Spielzeuge, Gegenstände des Hausgebrauchs im Miniaturraum verteilt, und es werden irgendwelche Materialien umfunktioniert zu Staffagestücken des Heterogenen. Dieses Modell, diese Modell-Situation wird sodann fotografiert. Das Foto wird als Vorlage genommen für die Dia-Projektion, wird an die Wand geworfen, wo es schließlich ab- und nachgemalt wird. Es entsteht nach langer Prozedur jene Leinwand, wie sie das Werk dann darstellt, die finale Redaktion mit allen Delikatessen der Peinture.

Franziska Maderthaners Bilder sehen nicht nur, in der Verschränkung und Ausschnitthaftigkeit, in der Fülle ihrer Details und dem synthetischen Zueinander der verschiedenerlei Dinge, kompliziert aus. Sie sind auch so gemeint, und in den diversen Assoziationen und Aufforderungen ans Weiterdenken mit denen sie arbeiten, halten sie einen Mechanismus der Bedeutungsvervielfältigung und der Sinnüberbietung in Gang, dank dessen aus Kompliziertheit Komplexität wird.

Man mag ein solches Verfahren Sampling nennen. Doch zum einen sind die Franziska Maderthaners Bilder beileibe nicht so modisch, wie dieser Begriff es meint. Zum anderen folgt die Methode, nach der sie ins Bild integriert werden, keiner Logik des nur irgendwie und nur irgendwoher Habhaften; die Dinge werden keineswegs reduziert auf ihre phänomenale Erscheinung, sondern sind immer schon bedeutungshaltig, weil sie Reminiszenzen sind und den Zusammenhang, aus dem sie stammen, mittragen. Zum dritten ist es sehr sprechend, dass Franziska Maderthaner, bevor sie mit den jüngsten Arbeiten begann, ein Verfahren beherzigte, das die vermeintliche Zufälligkeit der im Bild zusammengebrachten Dinge, mit der logischsten aller Legitimationen für Unlogik, nämlich der alten Konvention der Aleatorik, versah; es wurde also darüber gewürfelt, was ins Bild kommt. Alles in allem sind diese Bilder in Mechanik und Methodik viel zu konstruiert, um schiere Sampling-Produkte zu sein. Sie inszenieren den Bedeutungsüberschuss und nicht den Zusammenbruch aller Bedeutungen. Sie suchen die Exuberanz an Sinn und demonstrieren nicht seine Unmöglichkeit. Sie sind, mit einem Wort, viel eher polysemisch als disseminatorisch.

Ob man will oder nicht, es gibt für Künstler genauso wie für Kritiker und für alle anderen, die mit ästhetischen Gegebenheiten hantieren, einen jeweiligen, ebenso historischen wie aktuellen, Moment, an dem sich die Vorlieben, Zugangsweisen und Dispositionen verankern. Irgendwann setzt sich die Kriterienbildung in Gang, und dieses spezielle Irgendwann macht sich jeweils individuell geltend. Wer etwa mit der Minimal Art groß geworden ist, wird die Aufmerksamkeit fürs Serielle, Unhandwerkliche und Unaufgeregte nicht los werden (und die Expressiven womöglich Zeit seines Lebens affig finden).

Franziska Maderthaner ist Jahrgang 1962, und not gedrungen wird man bei einem solchen Geburtsdatum in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern fündig werden auf der Suche nach den ästhetischen Orientierungen, die in ihr Oeuvre einfließen. Und tatsächlich lässt sich vielerlei von dem, was ihre jüngsten Arbeiten heute prägnant vorführen, von damals her lancieren. In der Zeit um 1980 hatte die fotorealistische Manier (deren Präsenz auf der documenta 5 Franziska Maderthaner ein frühes Erweckungserlebnis bescherte) ihre erste Renaissance (und in Jean Baudrillards Diktum vom „Hyperrealismus“ ihre nachholende Theorie). In dieser Zeit um 1980 war der kritische Impetus einer Kunst-über-Kunst in vollem Gange und der artifizielle Kontext einer Sammlung, wie ihn Franziska Maderthaners jüngste Arbeiten heute in aller Ironie herstellen, wurde erstmals zum Problem gemacht (etwa bei Louise Lawler, die sich vielleicht am deutlichsten für einen Vergleich anbietet; dazu später mehr). Und in dieser Zeit war eben jene Neuentdeckung aus dem Geist der Postmoderne zu bewundern, die Epoche gemacht und den Bildern der Kunst einen veritablen Entwicklungsschub beschert hat. Bilder (vulgo: die guten Bilder) sind seither in erster Linie piktoral. Vorher waren sie in erster Linie konzeptuell.

Einer der Schlüsseltexte dieser neuen Bildlichkeit der Bilder, propagiert im Zentralorgan der postmodernen Ästhetik, im 1976 gegründeten „October“, war Craig Owens‘ eben 1980 erschienener „The Allegorical Impulse“. Sechs Begriffe bietet Owens dabei an, um der neuen Komplexität der Bilder, die er in Anlehnung an den damals sehr trendigen Walter Benjamin auf den Obertitel „allegorisch“ bringt, auf die Schliche zu kommen (das einzige, was von Owens‘ Begrifflichkeit wirklich einen Bart angesetzt hat, ist entsprechend diese Sammelbezeichnung). Diese sechs Begriffe seien im folgenden auf die Piktoralität bezogen, wie sie bei Franziska Maderthaner im Mittelpunkt steht.

1. „Appropriation“: Also bevölkern Darstellungen von Kunstwerken Franziska Maderthaners artifizielle Szenerien, tatsächlich realisierte, per Publikation in Umlauf gebrachte und als Zeitungssausschnitt in das Modell integrierte wie ein Datumsbild von On Kawara oder ein Schriftbild Ed Ruschas; bisweilen bieten sie sich dar als zitathafte Anrufungen wie bei Sigmar Polkes lächelnder Erscheinung „höherer Wesen“; genauso schließlich funktionieren im Sinne der Einverleibung des Fremden in das Eigene schiere Assoziationen, und die unschuldigste Ähnlichkeit macht aus etwas Verpacktem einen Christo und aus etwas Zerknautschtem einen John Chamberlain.

2. „Site-specifity“: Entsprechend fügen sich die versammelten Appropriationen zu einem neuen Kontext, jenem Kontext, der dafür bürgt, in all dem Angerufenen und Ausgeliehenen etwas seinerseits Kunsteinschlägiges zu erkennen. Franziska Maderthaner liefert also Einblicke in Kollektionen, in Sammlungen, die von der Ortsunabhängigkeit ihrer Exponate ebenso geprägt sind wie von der Ortsspezifik ihrer Aufbewahrung. Ein Ausblick ist immer gegeben, auf eine Berglandschaft der Alpen, auf die bizarren Felsformationen von New Mexiko oder auf eine Flussszenerie.

3. „Impermanence“: Alles, was die Kunst seiner Zeit anfasst, ist transitorisch, sagt Owens, es ist notwendig ephemer, auch wenn ihr die Bildlichkeit den Eindruck des Festen und Unabdinglichen verleiht. In diesem Sinn inszeniert Franziska Maderthaner nicht nur die Ausschnitthaftigkeit ihrer Bildwelten, sondern auch die vollkommene Willkürlichkeit dessen, was ihre Räume zeigen. Diese Objekte sind impermanent, weil sie in ihrem Zusammensein völlig kontingent sind. Ihre Versammlung ist das Gegenteil von notwendig.
4. „Accumulation“: Und doch sind all die Dinge zusammengebracht, neben-, auf- und aneinandergestellt zu einer künstlichen Welt der Bezüge. Die Akkumulation vollzieht sich im Namen der Steigerung, der reziproken Aufladung mit Bedeutung.

5. „Discursivity“: In diesen Bildern liegt ein gewisse Dimension des Appellativen. Da wird nicht von einer Situation erzählt, die es sowieso gibt, und eine Bezüglichkeit hergestellt auf eine Welt außerhalb des Karrees, das die Bilder sind. Statt Referenz gilt Diskursivität, die Anredefunktion, eine Art von Theatralik, die nur existiert, sofern sie auf die Wahrnehmung abzielt.

6. „Hybridization“: Anders als die gleichsam klassischen Verfahren der Einarbeitung bestehender Bilder, die Collage und die Montage, geht die Hybridisierung stärker von Anreicherung als von purer Aneignung aus. Franziska Maderthaner bedient sich der Dinge und Erscheinungen nicht, um sie als Fragmente, Zitate, Realitätspartikel neu zusammenzusetzen; vielmehr werden die Kontexte, aus denen sie stammen, akzeptiert und als Totalitäten wieder verwendet. Es sind ganze Welten, die sich hier begegnen.

Wie es aussieht, werden gerade durch solche Mechanismen, wie Owens sie in Worte gekleidet hat, die Bilder der Gegenwartskunst in steter Folge komplexer. Wenn sich Franziska Maderthaners neueste Produktion in diesem Sinn auf einen Prozess hin orientieren lässt, der in der Zeit um 1980 einsetzte, ist damit ein Ausgangspunkt markiert. Doch die Differenz ist nicht weniger markiert: Ihre eigene Zeitgemäßheit und Aktualität für die unmittelbare Gegenwart liegt in der weiter zunehmenden Fülle, Vielfalt und Verzweigung der im Bild angelegten Dimensionen.

Wenn um 1980 das Prinzip der Beobachtung auf höherer Ebene Einzug hielt und eine Kunst-über-Architektur, eine Kunst-über-den-Kunstbetrieb oder eine Kunst-über-den-Modernismus entstand, so hat es mit diesem einmal erreichten Status einer Selbst-Thematisierung der Position über den Dingen eben nicht sein Bewenden. Als Louise Lawler sich jenen hybriden Wirklichkeiten widmete, in denen Andy Warhol in irgendeiner Privatsammlung vis-à-vis zu einem Impressionisten auftaucht, war es eine exemplarische Kunst-über-Kunst. Und das ist es um so deutlicher, um so expliziter und um so bezeichnender, wenn Franziska Maderthaner ihrerseits eine Louise Lawler aufgreift und damit weitere Meta-Ebenen auslotet.

Es gibt, so lässt sich daraus lernen, auch in der Postmoderne eine Logik der Überbietung. Und es gibt, nach einem Jahrhundert modernistischer Reduktion, endlich wieder gute Bilder.