Fluide Metamalerei
Wolfgang Pauser

Wer einmal in die Praxis des Malens hineingeraten ist, hat sich – gewollt oder ungewollt – einem Kontext ausgeliefert: dem Kontext der Malerei. Zu diesem muss man sich malend verhalten, in diesem muss man mit seiner Malerei Stellung beziehen, weil die eigenen Ergebnisse des Malens von den Betrachtern so interpretiert werden, als hätte man sich zur Malerei verhalten und sich in dieser positioniert. In einer solchen ausgelieferten Lage empfiehlt es sich, das Malen nicht naiv, unwissend, unreflektiert, ohne Mittel, Fähigkeiten und Fertigkeiten praktizieren zu wollen, sondern die Malerei kunstvoll auszuüben und es in diesem Medium gleichsam „zu einer Kunst zu bringen“.

Zugleich unterscheidet sich die Malkunst im engeren Sinne von allen anderen Kunstfertigkeiten darin, dass hier die Regeln der Kunst zugleich auf eine Weise zu brechen sind, die einerseits individuell ist, zugleich aber auch sinnhaft auf den Kunstkontext bezogen. Das absolut Individuelle könnte mangels Code und Kontext nicht als solches gelesen und erkannt werden. Das strategisch auf den Kontext Antwortende könnte auch von jemand anderem erdacht worden sein. Die Malkunst stellt somit die paradoxe Aufgabe, die individualgeschichtliche Gewordenheit mit der kunst- und bildhistorischen Situation zu einer Einheit zu fügen; das Höchstpersönliche und das Allgemeingültige des gesellschaftlichen Bildbestands wie die beiden Stränge eines Reißverschlusses neuernd und sinnstiftend zusammenzuziehen.

 

Spuren des Erlebten und Überwundenen

Um das malerische Werk Franziska Maderthaners zu begreifen, werden im Folgenden die beiden Erzählstränge der Individual- und der Bildhistorie zuerst einmal auseinandergelegt, um sie am Ende – im Nachvollzug des Reißverschlusses – wieder ineinanderzulegen. Der erste biografische Einsatzpunkt war die Teilnahme des Volksschulkindes an einem Zeichenwettbewerb, der von einem Farbstiftehersteller ausgeschrieben worden war und den Siegern für viele Jahre den Gratisbezug aller Stifte ohne Mengenbegrenzung versprach. Franziska gewann und tat, womit niemand gerechnet hatte: Alle paar Wochen holte sie sich Nachschub, viele Jahre lang. Ihr Vater, von Beruf Architekt, versorgte sie mit großformatigen Papierbögen, auf denen seine Studenten das technische Zeichnen geübt hatten. Die leeren Rückseiten dieser Blätter waren für Franziska dazu vorgesehen, ihre zeichnerische Welt entwerfen zu können. Die Praxis des täglichen Zeichnens entwickelte sich bald zur Obsession. Wie kam es dazu?

Hintergrund dieser (bis heute) täglichen stundenlangen Beschäftigung war eine Erziehung, die nicht nur im Allgemeinen hohe Leistungserwartungen mit geringem Einfühlungsvermögen und wertender Strenge verband, sondern auch von jeder Kinderzeichnung forderte, dass diese nicht für fertig erklärt werden dürfe, bevor mindestens drei Stunden Arbeit investiert worden wären. In unerträgliche Situationen gebracht, sehen sich Kinder meist gezwungen, kreativ zu werden und für sich einen seelischen Selbstrettungsmechanismus zu erfinden. Franziska rettete sich schon früh durch Identifikation mit dem Aggressor, koppelte diese aber mit Flucht nach vorne, um dem verinnerlichten Appell des Sollens ein Schnippchen zu schlagen und der verfolgenden Instanz zu entkommen. Sie wich nicht aus, ging nicht zu Boden, sondern reagierte mit Forcierung, Steigerung und Überbietung des Gesollten so extremistisch, dass sie damit gleichsam das pädagogische System auf den Kopf stellte und auf diese Weise ein Stück Souveränität zurückerobern konnte. Auch als Leistungssportlerin in Jugendjahren agierte sie das Leistensollen aus, lief ihm zugleich davon, überholte sich selbst und ermächtigte sich selbst im Sieg. Sportlicher Wettbewerb trägt generell in sich die Ambivalenz aus, dass der Sieg sowohl Ergebnis der Unterwerfung unter das Siegenmüssen als auch der Triumph darüber ist. Der siegreiche Läufer ist nach der Ziellinie nicht nur dem anstrengenden Wettbewerb gleichsam eine Nasenlänge voraus, sondern auch sich selbst. Die Flucht nach vorne hat ihn über das Ziel hinausschießen lassen.

Im Alter von zehn Jahren besuchte Franziska mit ihren Eltern die documenta 5 in Kassel. Konfrontiert mit den großformatigen Malereien der amerikanischen Fotorealisten, erlebte sie ambivalent Faszination und Abscheu, aber auch eine gewisse Dissidenz, denn diese minutiös gemalten Fotos verhöhnten alles, was in ihrer „progressiven und doch bildungsbürgerlichen Familie als moderne Malerei galt“, wie etwa Picasso, Matisse und die Abstrakten. Beim Nahe-Herangehen bemerkte sie den Kippeffekt, dass sich das realistische Bild in chaotisch-abstrakte Farbpunkte auflöst. Mit der Lupe betrachtet, lässt sich Fotorealismus kaum von Action-Painting und Abstraktem Expressionismus unterscheiden. Bis heute kann man diesen Kippeffekt in Maderthaners Bildern nachvollziehen, ohne sich diesen nähern oder eine Lupe zur Hand nehmen zu müssen. Auf die gleiche Ebene gestellt, werden die kunsthistorischen Gegenspieler gegenständliche und ungegenständliche Malerei zueinander in Stellung gebracht und von Aspekten desselben zum Thema des Gemäldes erhoben.

 

Die kulturellen Innovationen der 1980er Jahre

Anfang der 1980er Jahre begann Franziska Maderthaner ihr Studium an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und begegnete dort einem merkwürdigen Geschlechterverhältnis. Die männlichen Studenten malten in der Klasse großformatig im Stil der „Neuen Wilden“, während die Studentinnen sich zu Hause im Stillen mit zumeist feministisch inspirierter Fotografie, Video- oder Performancekunst beschäftigten. Franziska Maderthaner verweigerte in dieser Situation die Solidarisierung mit dem Selbstentwurf der „armen und leidenden Künstlerin“ und setzte es durch, als erste Frau auch in der Klasse malen zu dürfen – kräftig und laut und großformatig. Sie konkurrenzierte lieber die Männer und positionierte sich als „moderne starke Frau“ im Sinne jener in den 1980er Jahren aufkommenden Variante des Feminismus, deren Frauenbild nicht mehr von Opfern, sondern von selbstermächtigten Siegerinnen bestimmt war und von Popstar Madonna ikonisch verkörpert wurde. Es war die Zeit, in der Frauen breite Schulterpolster trugen und Stilettos nicht als patriarchale Gehbehinderung, sondern als weibliche Waffen interpretierten. Nicht mehr zu klagen, sondern sich großzumachen, war der neue, heftig umstrittene feministische Weg einer Flucht nach vorne, der dem Charakter Maderthaners entgegenkam.

In der Musik begann der Aufstieg des DJs, der vom Plattenaufleger und Zwischenansager zu einem Künstler sui generis avancierte, wenn nicht sogar zur kulturellen Leitfigur der Epoche. Sein Musizieren fand auf der Metaebene der musikalischen Kunstwerke statt, die er sammelte und zum Material seiner eigenen Zusammenstellung bzw. Komposition degradierte. Fremdes Bestehendes wurde nicht länger aufgeführt, sondern integriert, durcheinandergemischt, angeeignet, collagiert, rekontextualisiert. „Remixe, remake, remodel“ lautete ein Songtitel von Roxy Music. Sampling wurde zur neuen Kulturtechnik. Was in der Musik der DJ, war in der bildenden Kunst der Kurator. Auch dieser war ein Kenner der Archive und Bestände, wurde zunehmend wichtiger als die Künstler, deren Werke er als beinahe illustrative Materialien für seine Themen- und Thesenausstellungen heranzog. DJs und Kuratoren waren die ersten Metakünstler, deren Handwerk im Auflegen und Aufhängen, deren Werk jedoch im sinnerzeugenden Zusammenstellen bestand.

Der kulturelle Hintergrund des Aufstiegs von Kulturtechniken, die Kunstwerke und deren Fragmente aus ihren Zusammenhängen rissen und zu Neuem montierten, war der Strukturwandel vom Hintereinander des Fortschritts zum Nebeneinander im globalen Archiv. Unter dem Begriff der Postmoderne wurde in den 1980er Jahren die Demontage des linearen Zeitpfeils und der einen, fixierten Bedeutung reflektiert und zelebriert. Dabei wurde sich die Menschheit der Kontextabhängigkeit jeder Bedeutung von Zeichen und Artefakten bewusst. Globalisierung und wachsende Verfügbarkeit von Medien desintegrierten gewachsene Zusammenhänge und setzten viel Mut frei für neue, spielerische Rekombinationen. Man benutzte Zitate, jedoch nicht mehr zur Bestätigung, sondern zur Demontage des historischen Sinns. Lange bevor Computer und Internet dafür zur Verfügung standen, wurden die Gleichzeitigkeit, Verfügbarkeit und Kombinierbarkeit aller Klänge und Bilder aus dem globalen Archiv von den kulturellen Innovationen dieses Jahrzehnts antizipiert.

Franziska Maderthaner lebte diesen Zeitgeist sowohl mit Musiken als auch mit Bildern. Einen großen Teil ihres Studiums verbrachte sie in der Bibliothek, wo sie sich ein umfassendes kunsthistorisches Bildgedächtnis aneignete. In ihrem Kopf richtete sie sich ein „imaginäres Museum“ ein, das nicht nur von der Renaissance bis zur Gegenwart reichte, sondern auch alltagskulturelle Bildwelten umfasste. Dieses Bildgedächtnis pflegte und erweiterte sie später in ihrer kunsthistorischen wie auch künstlerischen Lehre an der Universität für angewandte Kunst. Ihre Leidenschaft am Sammeln, Archivieren und neu Kombinieren erstreckte sich parallel auch auf die Musik. Die Malerin tritt immer wieder als DJ auf.

 

Das digitale Paradigma

Die kulturellen Praktiken des kennerschaftlichen Archivierens, Zusammenstellens, Rekontextualisierens, Sampelns, Vermischens, Erneuerns und Präsentierens von Artefakten und deren Elementen nahmen mit der Verbreitung erst des Personal Computers, später des Internets einen so großen Aufschwung, dass sie nachgerade als die wesentlichsten innovativen Kulturtechniken des 21. Jahrhunderts betrachtet werden müssen. Das heutige Leben im digitalen Paradigma ist ein Zuhausesein im totalen Archiv, welches aufgrund der überwältigenden Fülle an Artefakten zugleich ein Fremdsein beinhaltet. War das 20. Jahrhundert vom Hintereinander, von Wandel und „Revolutionen“ geprägt, ist für das 21. Jahrhundert mit der totalen Verfügbarkeit aller bestehenden Bilder zu jeder Zeit an jedem Ort das Lebensgefühl einer Gleichzeitigkeit und die Notwendigkeit eines Umgangs damit in den Vordergrund getreten. Die Zeitmetaphorik ist in eine Raummetaphorik übergegangen. Im Raum der Gegenwärtigkeiten werden Zeitbezüge und Historizitäten positioniert. So sind etwa die gegenständliche und die abstrakte Malerei von ihrem historischen Zweikampf und ihren wechselseitigen Überholmanövern erlöst und stehen gleichermaßen in der Gegenwart zur Verfügung, ohne dass man sagen könnte, welche die historischere und welche die „modernere“ sei. Beide sind Zitate in jenem postmodernen Sinn, dass die Welt nur noch aus Zitaten besteht, mit denen nichts herbeizitiert wird, sondern nach DJ-Manier nur im Hier und Jetzt ein Präsentieren erfolgt.

Franziska Maderthaner hat schon früh begonnen, mit dem Computer zu arbeiten und (ganz unhandwerklich) technische Mittel zur Herstellung ihrer Gemälde heranzuziehen, dabei aber das händische Malen beibehalten und verfeinert. Als viele zu den damals sogenannten „Neuen Medien“ wechselten, setzte sie sich innerhalb der Malerei mit diesen auseinander, funktionalisierte diese und reagierte in vielfältiger Weise auf deren Möglichkeiten und Impulse. Die Spur der kunsthistorisch hochgerüsteten Bilder-DJane durchzieht ihr Werk bis heute. Das Werk Franziska Maderthaners ist eine digitale Art von Malerei, ist Digitalkunst im Medium von Menschenhand ausgeführter Malerei.

 

Antiexpressionismus

Schon in der Konfrontation mit den neu-wilden Kollegen der Studienzeit fühlte Franziska Maderthaner keine Affinität zur expressiven Geste, zur Kunstauffassung des Ausdrückens eines seelisch Inneren in einem erscheinenden Äußeren. Diese Auffassung setzt ja voraus, dass eine innere Substanz vorgängig sei gegenüber ihrem In-Erscheinung-Treten im Sichtbaren. In ihren frühen, von Pop-Art und Fotorealismus beeinflussten Arbeiten warf die Künstlerin einen unerschrocken sachlichen Blick auf die Dinge und auf die Bilder der sie umgebenden Konsum- und Medienkultur. Dass diese beiden Traditionen damals gerade eine negative Konjunktur im Kunstgeschehen hatten, nahm sie in Kauf und schlug einen Weg ein, mit dem sie noch viele Jahre lang auf Unverständnis stieß.

Auch dem Naturalismus steht Franziska Maderthaner fern, denn selbst dort, wo sie Naturobjekte (wie z. B. stehende Pferde in Seitansicht) malt, sind es stets Fotos von Natur, die sie im Internet sucht, detailliert und vergrößernd malt und damit nicht nur ins Medium Malerei überträgt, sondern zugleich in den extremistisch unnatürlichen und dynamischen Zusammenhang ihres tollkühnen Bildgeschehens hereinzieht. Ein Foto nachzumalen, steht quer zum mythologischen Zweikampf der Kunstmedien im 20. Jahrhundert: Der analogen Fotografie wurde die Anerkennung als Kunstform verweigert, weil sie rein mechanisch und damit „seelenlos“ unexpressiv die Natur „bloß“ abbilden würde, während es der Malerei vorbehalten wäre, die subjektive Sicht und Deutung „menschlich und künstlerisch“ zum Ausdruck zu bringen. Aus dieser Betrachtungsweise heraus wäre das gleichsam naturalistische Abmalen eines Fotos die absurde Umkehrung des Verhältnisses zwischen den beiden Medien Foto und Gemälde. Maderthaners doppeltes Zitat – eines Objekts und dessen Medialisierung – ist erst im heutigen Kontext verstehbar, als doppelte Negation jeder subjektivistisch-expressiven Kunstauffassung und als Reflexion unseres postmodernen Archivlebens, in dem das Subjekt sich in einem unablässigen Zustrom von Bildern von Bildern und Zitaten von Zitaten zu halten versucht.

Heute ist die Abbildung gegenüber der Natur nicht mehr als das Nachträgliche interpretierbar („nach der Natur gemalt“), vielmehr liegen in einer durchgängig von Visualisierungen erschlossenen Welt die Bilder stets unseren Naturwahrnehmungen voraus und zugrunde. Ästhetische Erfahrung ist vom Auslöser eines Abbildens zum Nachvollzug von Bildern geworden. Diese möglicherweise enttäuschende erkenntnistheoretische Einsicht, die uns heutigen Bewohnern von Digitalien von der alltäglichen Medienerfahrung aufgezwungen wird, ist ein weiterer Themenstrang, der die Arbeiten Franziska Maderthaners über mehrere Werkgruppen hinweg durchzieht.

Status des Geschütteten

Der antiexpressive Impuls hat eine lebens- und eine malereigeschichtliche Komponente. In der Frühzeit der gegenständlichen Malerei Maderthaners gilt der Abstrakte Expressionismus so sehr als Antipode aller Abbildlichkeit, dass dessen Zurückweisung und Abstoßung einen erheblichen Schub zur Wegfindung der Künstlerin beisteuert. Als jedoch das Malen von Malereien ins Werk tritt, findet neben vielen anderen zitierten Bildern berühmter moderner Maler auch der Abstrakte Expressionismus Einlass in Maderthaners Bildwelt.

Auf den ersten Blick ist man versucht, die Gemälde der Künstlerin als Titanenkampf zwischen den bedeutendsten Gegenspielern des 20. Jahrhunderts, Abbild gegen Abstraktion, zu lesen. Tatsächlich gibt es ja auch rein formal einen starken Kontrast zwischen grob geschütteten und fein gepinselten Zonen auf den Tafeln. Der Mythos des Wilden gegen das Gezähmte, der expressiven Eruption gegen den Dienst am Wiedererkennen drängt sich geradezu auf. Doch es bleibt unentscheidbar, ob das Geschüttete die Spur einer emotionalen Körpergeste ist oder ein weiteres Zitat aus der Malereigeschichte, das ebenso wie die alten Meister gemalt wird, was technisch nur durch den Nachvollzug der historischen Maltechnik des Schüttens herstellbar ist. Für den zitathaften Aspekt der Schüttungen spricht, dass Maderthaner schon in einer früheren Werkphase Abstraktes und Gegenständliches zum Kippen gebracht hat, als sie die Betrachterin eines Streifenbildes von Daniel Buren in ein identisch gestreiftes Kleid hüllte.

Maderthaners Gemälde sind Umspringbilder, in denen das suchende Auge nichts endgültig identifizieren kann, weil sich alles unter der Hand in sein Gegenteil verwandeln kann, je länger man es betrachtet. Nichts ist, was es scheint: Die abstrakt-expressionistischen Elemente erweisen sich zugleich als Abbildungen des Abstrakten Expressionismus, während die gegenständlichen Elemente sich als Abbildungen nicht von Gegenständen, sondern von Bildern herausstellen. Tritt man nahe genug an die Leinwand heran, lösen sich auch die feinsten Pinselstriche von ihrer repräsentierenden Aufgabe und autonomisieren sich gerade so, wie es der Abstrakte Expressionismus als seine Aufgabe gesehen hat.

In letzter Zeit hat sich zu den Schüttungen ein weiteres scheinbar abstraktes Bildmittel gesellt: Breite Farbstreifen mit Spuren jener eigens angefertigten großen und groben Bürsten, mit denen sie aufgetragen wurden. Auch sie suggerieren prima vista, aus einem wilden, grobschlächtigen, unmittelbaren, gestischen und expressiven Akt hervorgegangen zu sein. Bei Betrachtung aus größerer Entfernung jedoch sehen sie aus wie klassische malerische Pinselstriche. Die grobe Bürste ermöglicht die vergrößerte Darstellung des Urelements der Malerei. Die Illusion, hier sei ein Riesenpinsel am Werk gewesen, weist den geriffelten Farbstreifen als Zitat und Abbild eines kleinen Pinselstrichs aus. Auch hier changiert, was wir sehen, zwischen mehreren medialen Repräsentationsebenen und Aspekten. Der überbreite „Pinselstrich“ ist wahr und falsch, malend und gemalt, repräsentierend und repräsentiert zugleich.

 

Präsentierung als Prozess

Sieht man Bildzitate aus der Kunstgeschichte und Schüttungen als gleichartige und gleichwertige Elemente an, dann haben sie gemeinsam, die Fläche aufteilend so zu gestalten, dass ein räumlicher Eindruck entsteht. Manchmal schiebt sich ein Abbild über ein Gefließe, dann wieder fließt Farbe über eine abbildliche Zone. Die Überlappungen liest das Auge als davor und dahinter, kann sich aber dennoch nicht im Raum orientieren, denn eine Zentralperspektive im euklidischen Raum steht nicht zur Verfügung. Was eben noch als Vordergrund erschien, verwandelt sich ein Stück weiter in Hintergrund und so ewig fort. Der imaginierte Bildraum endet nicht an den Rändern des Gemäldes, man stellt ihn sich – wie den eines barocken Deckengemäldes – als potenziell unendlich erweiterbar vor. Die Bilder wirken wie Ausschnitte, ohne dass man sagen könnte, woraus sie ausgeschnitten sind.

Maderthaners Gemälde erscheinen wie Traumbilder, denn ähnlich wie der Traum fügen sie unzusammenhängende Einzelbilder aneinander, die nicht das abbilden, wofür sie stehen, sondern sich als etwas anderes herausstellen, sich in etwas anderes verwandeln und als Rätsel vor uns treten, hervorgegangen aus einem nicht intendierten Geschehen. Zum Unterschied von Traumbildern lässt sich aber in den Gemälden Maderthaners kein latenter Trauminhalt hinter einem manifesten Trauminhalt rekonstruieren. Es handelt sich nicht um Ergebnisse der Verdichtung und Verschiebung eines Primärprozesses. Das Rätsel der Bildinhalte lässt sich nicht lösen und als das insgeheim Ausgedrückte in die Zeit vor dem Beginn der Arbeit am Gemälde rückprojizieren. In psychologischer Perspektive besser geeignet ist der Rorschach-Test, um den Malvorgang zu charakterisieren, denn die Künstlerin beginnt ihre Arbeit oft mit Schüttungen, die zufällige Strukturen ergeben. Von diesen lässt sie sich anregen zu bildlichen Assoziationen mit ihrem memorialen und digitalen Kunstarchiv. Im nächsten Schritt fügt sie im Computer Bildelemente zusammen, die sie dann auf den geschütteten Untergrund malt. Diese abbildlichen Elemente regen sie zu neuerlichen schüttenden Eingriffen an – und so fort.

Dabei kommt es ihr weder auf einen Ausdruck noch eine Botschaft an, vielmehr lässt sie ihren Assoziationen freien Lauf und komponiert diese nach ästhetisch-formalen Gesichtspunkten. Manchmal fließen auch Themen ein, die Franziska Maderthaner gerade beschäftigen, aber die sind nicht das Wesentliche, sondern nur mögliche Komponenten im Prozess der Werkentstehung. Es geht der Künstlerin gerade darum, dass die montierten Abbildungen ebenso wenig wie die Schüttungen einer Bedeutungsintention entspringen, sondern bewusst dem Zufall (und damit dem Einfall des Unbewussten) überlassen werden. Dieses aleatorische Element zeigte sich in zugespitzter Form schon in einer früheren Werkserie, zu der sie Freunde einlud, jene Kunstwerke durch ein Würfelspiel auszuwählen, die sie danach zu neuen Bildern verband.

 

„Unbewusst – höchste Lust!“[1]

Die kunsthistorischen Wurzeln der Verabschiedung vom Intentionalen des Kunstschaffens reichen zurück bis zum Dadaismus mit seiner Ästhetik des Absurden und zum Surrealismus, der seine sinnlosen Zusammenstellungen oft von Freuds Modell einer Symptom- und Symbolbildung aus dem Unbewussten hergeleitet wissen wollte. In den für Franziska Maderthaner prägenden 1980er Jahren wurde in Wien die französische Philosophie des Poststrukturalismus rezipiert und diskutiert. Der „Tod des Autors“ war Thema, und Freuds Einsicht, „Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus“, wurde von Semiotik und Linguistik weiterentwickelt. Das traditionelle Subjektivitätsmodell, dem zufolge das Signifikat vorgängig sei gegenüber dem Signifikanten, die Bedeutung vorgängig dem physischen Zeichen, wurde umgekehrt: Die Artikulation des Signifikanten liegt der Bedeutung voraus, die erst ex post rückprojiziert wird in einen Ursprung im Subjekt. An die Stelle einer ursprünglichen Einheit und Substanz trat die Differenz. Bedeutung ist nicht das Zugrundeliegende, sondern der Effekt eines Prozesses der Artikulation und Differenzierung. Das Bedeutende ist aus dem Unbedeutenden geboren, der Sinn ist aus dem Sinnlosen hervorgegangen, und nicht umgekehrt.

An Maderthaners Arbeiten lässt sich exemplarisch beobachten, wie eine Bedeutungsaufladung passiert, auch wenn keine bestimmte Bedeutung intentional angestrebt wurde. Die Künstlerin überantwortet die Genese einem Prozess, in dem die Entstehung von Bedeutung nolens volens unter der Hand passiert. Sie konzentriert sich auf die ästhetische und kompositorische Dimension des Bildes und ist dadurch abgelenkt von der wachen Ich-Kontrolle über das Einfallende und Zufallende, das ihr im Schütten wie im Malen gleichsam unterläuft. Damit erst kommt ein stark verdichtetes Kunstwerk zustande, das gleichsam mehr weiß als seine Autorin und das jede mögliche Bedeutungsintention im Ergebnis überbietet.

An die Stelle des intentionalen Ursprungs tritt eine Kettenreaktion von Gedankensprüngen, die freilich nicht mit der Fertigstellung des Gemäldes enden, sondern im Weiteren dessen Betrachtern zur Fortsetzung geradezu aufgezwungen werden. In der Rezeption ist man verführt, das Unzusammenhängende zu einem Kontext zusammenzuhängen, der sich aus der wechselseitigen Interpretation aller Bildelemente entspinnt. Das eigensinnige Bild gewinnt in der Betrachtung einen je eigenen Sinn.

 

Maximalismus und Musikalität

In den Gemälden von Franziska Maderthaner fließen zahlreiche Stationen der Kunstgeschichte und der Individualgeschichte ineinander. Nach wie vor arbeitet die Künstlerin täglich viele Stunden akribisch mit der Hand und schafft damit dem digitalen Bilduniversum einen außenliegenden Spiegel. Ihre frühe Begegnung mit dem Fotorealismus hat nicht nur in der minutiösen Malweise, sondern auch im Umspringen der Bildwahrnehmung zwischen Mikro- und Makroperspektive (wie etwa im Fall des scheinbar vergrößerten Pinselstrichs) Spuren hinterlassen. Vom Abstrakten Expressionismus hat sie die Maltechnik des Schüttens importiert, ohne damit jedoch etwas abstrahieren oder ausdrücken zu wollen.

Ihrem frühen Impuls, gegenüber der männlich dominierten Malkunst konkurrenzierend und sich selbst ermächtigend aufzutreten, ist sie bis heute treu geblieben: Bescheiden sein und klein beigeben liegt ihr nicht, Rückzug in den Minimalismus auch nicht, denn sie ist eine geborene Maximalistin. Ihre Farben sind kräftig und laut, sie sind nicht harmonisiert, sondern behaupten sich jede für sich an ihrem Ort. Maderthaner macht nicht nur großformatige Bilder, sondern auch Raum schaffende und Raum greifende.

Der feministische Aspekt ihres Werks liegt nicht in dessen selten vorkommenden expliziten Thematisierungen, sondern in Maderthaners Unerschrockenheit, sich die Werke der Allergrößten anzueignen („Appropriation“) und als Material ihrer eigenen Bildwelten zu nutzen, in einer Zitierweise, die ohne Anbetung auskommt. Als „starke Frau“ positioniert sich die Künstlerin mit allen Kräftigkeiten, Fähigkeiten und Akkumulationen, mit allen Forcierungen und Überbietungen, die ihren Bildern innewohnen und die nur mit einem im Kunstdiskurs momentan verschwundenen ästhetischen Begriff, dem Begriff der Prächtigkeit, zusammenzufassen sind.

Auch die zur Bilder-DJane modernisierte Kunsthistorikerin, das emsig zeichnende Mädchen, die Websurferin auf der Flucht nach vorne und die antiexpressive Würfelspielerin können wir leicht in jedem ihrer Bilder erkennen. Diese sind Bilder über Bilder, sind Metamalereien, welche die symbolische Ordnung durcheinanderwirbeln und die Bildbedeutungen ins Fließen, wenn nicht zum Tanzen bringen. Die turbulenten Tafeln Franziska Maderthaners erschließen sich aus dem Prozess ihrer Entstehung, der nicht herausgelesen werden kann, sondern hineinzulesen ist vom Betrachter, der automatisch gerade dort Zusammenhänge zu knüpfen beginnt, wo Maderthaner die ursprünglichen zerrissen hat.

Der Modernismus fußte – vor hundert Jahren – auf dem Tabula-rasa-Prinzip. Die Geschichte sollte abgestreift werden, um das voraussetzungslos Neue erschaffen zu können. Franziska Maderthaner findet sich vor im bildarchivarischen Schlaraffenland, vor einer Tabula opulenta. Diese verwandelt sie, auf ihre ganz eigene malerische Weise, in opulente Tafeln.

Der malerische Prozess, in den Bedeutung absichtslos ex post einfließt, gleicht der Ästhetik der Musik: „Nietzsche denkt die Anerkennung der Musik als autonome sinfonische Form zusammen mit einer Dimension musikalischen Bedeutens. Zwar ist Musik ein Spiel von Signifikanten, die in keiner bestimmten und angebbaren Bedeutung sich feststellen lassen; und doch ist dieses Spiel nicht unbedeutend. Zwar lassen sich keine definitiven Inhalte von der musikalischen Form separieren; und doch ist sie nicht inhaltslos. Nietzsches Musikästhetik lässt sich daher weder auf eine bloße Inhalts- und Ausdrucksästhetik, noch auf eine reine Formästhetik reduzieren. […] Die Problematik der Sprachauffassung der Musik besteht darin, dass Musik (wie Sprache) sagt und doch nicht sagt, etwas zum Ausdruck, aber nicht auf den Begriff bringt, bedeutet, aber nicht denotiert.“[2]

Wolfgang Pauser

 

 

[1] Richard Wagner: Tristan und Isolde.

[2] Rudolf Fietz: Medienphilosophie: Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche [Epistemata]. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1992, S. 82 f.