Die Bikinimenschen
Tableau Vivant zu Franziska Maderthaners Malerei
Lydia Mischkulnig

 

Die Mauern bröckeln und durch die Fensterlöcher wachsen Büsche. Die Zinnen sind eingestürzt, ein Sprung zieht sich vom Sockel in die oberen Stockwerke und davor, nein, darin – im Hof der verfallenden Burg, stehen zwei Menschen im Bikini. Barfuß, die dünne Haut zur Schau tragend, neugierig vortastend und zum Rückzug bereit, sobald die Steine aus der Mauer purzeln und die Natur mit der Machbarkeit bricht. Die Ruine ist älter als der See unten am Fuße des Hügels. Sein Wasser ist dunkel über den Dörfern am Grund. Die Struktur der Mauer, das Alter der Steine, die kanadisch anmutende Landschaft, ein Waldviertler Arkadien, das von den Nazis geschaffen wurde, um Hitlers Spuren als Örtlichkeit der Herkunft zu verwischen. Die Dörfer des Gebietes wurden von den Nazis entmenscht, ein Truppenübungsplatz errichtet. Die Gegend wird heute auch an Militärs vermietet, um Kriegsgerät zu erproben, Manöver zu üben. Die Stümpfe des verlassenen Döllersheim sind Gedenkstätten der Vertriebenen. Der Friedhof ist in Betrieb, so manche Umgesiedelte wollen tot zurückkehren. Hitlers Großmutter soll hier begraben sein, ihr Platz ist unbekannt, um Neonazis fernzuhalten. Nach dem Krieg wurde der Kamp gestaut, die Täler geflutet, die Seen gebildet, das Waldviertel elektrifiziert. Vergangenheit zieht ihre Spur in die Oberfläche des Augenblicks, wo sich die Bikinimenschen ins Geschehen einmischen, eins ins andere, Übergänge verwischen, auftreten, abtreten, alles miteinander in einen Fluss bringen, um die Gegenwart als Schicksalswucht, noch nicht erfahren, aber kurz drauf und dran, zu erfassen. Alles Gefertigte sei falsch, stellen die Bikinimenschen mit ihrem Blick richtig. Geht das?

In der Malerei sei nichts Zufall, meint man. Auch nicht die Flutung der Leinwand. Jeder Griff der Künstlerin sitzt. Das Gemisch der Farben ergibt einen Guss, weil mit Spachtel und Winkeleisen fließende Übergänge gezogen werden. Pinsel dienen als Besen, Besen als Pinsel, die die Farbe über die Leinwand kehren und die erste Schicht bestimmen. Es bilden sich Seen. Mit einem Föhn wird deren Oberfläche aufgewirbelt und die Farbe verblasen. Jeder Moment der Aktion, wo die Farbstoffe ihre Felder besetzen und Spuren legen, ist der Konzentration unterworfen, um den Zufall geschehen zu lassen. Ein Wunder, nah am Wort, das durch Behauchung zur Tat wird; Sprechakt, Malakt. Dazu spielt die Musik. Hörst du den Klang? Stell dir Farbe vor?
Farben zu denken, fällt dem Wortmensch schwer. Zu ihren Namen fällt mir nämlich die Geschichte ein, die ich mit ihrem Ton verbinde, die Haptik ihres Schimmers und die Atmosphäre der Umgebung, wo sich mir die Bezeichnung eingeprägt hat. Ich antworte: Wasser, Stein, Mohn. Das sind die Farben des Monats, wo man schwimmen gehen und in Ruinen herumklettern und Blütenfelder sehen kann. Blüten, die in der Sekunde vergehen.
Schlieren und Tupfen, Blasen und quallige Schirme tauchen aus den Tiefen empor, platzen und überraschen mit ihren Metamorphosen und anschwellenden Mustern. Die Schüttung trocknet und bietet den Griff in die Fülle, die Assoziationen erweckt und neue Bezüge entspinnt. Zum Beispiel das Genre der Bikinimenschen von Dobra.
Sie schwimmen über den See zur Ruine hinüber, und hören das Gebell der angeketteten und ertrunkenen Hunde, das Schlagen der Glocke im Wellengang, das enttäuschte Seufzen der Ausgesiedelten, die Wut der Gelackmeierten, die Befriedung der Abgefundenen, die in der Mühle am Fuße des Sees einst Arbeit gefunden hatten. Sie tauchen hinab und stoßen sich mit Kraft vorwärts, doch das Wasser ist schwarz und man benötigte Licht, um tiefer zu sehen. In den Bildern ist Licht. Es verweigert, den Sinn einer Geschichte zu sehen. Historische Gewänder erscheinen, Faltenwürfe legen ein Schicksal im flämischen Licht der Abendsonne aus, die der Zufall der Schüttung erzwingt. Der Kopf einer Salondame klafft zu einer Schlucht auseinander (1). Die Kopflose steckt zwar in einem eleganten Satinkleid, hat einen Fächer in der Hand, aber sie stammt in diesem Gewand auch nur aus dem Archiv. Sie hat Flügel, die sich zur Landschaft aufschwingen. Um welchen Preis? Der Schnee glänzt wie Satin und der Schmelz braut die Urtierchen aus den Schichten. Die Pose einer griechisch gewandeten Göttin gehört einer Pinselführerin, die auf die unsichtbare Wand zum Betrachter schreibt: Trick (2). In Spiegelschrift liest sich das Wort Trick als Fick. Wer wen? Aufforderung? Abweisung? Die Frage bleibt offen. Die Spiegelschrift grenzt das Bild gegen die Durchdringung ab. Sagt es, schau dich selber zusammen!?
Im nächsten Bild erhebt sich ein Adonis aus dem Pinselschwung (3). Beißt er sich selber in den Schwanz? Oder der Blick seiner Betrachterin im T-Shirt? Hell leuchtet die Haut einer Akrobatin, die turnend, über einer Felsenschlucht schaukelt (4).
Durch das Wasser zur Ruine schwimmend, unter uns, den Bikinimenschen, geronnene Schlucht. Wie fühlt sich Leinwand an, wenn sie beschüttet wird? (5) Haut. Brust. Knie. Liege im Wasser und lasse die Oberfläche meiner Leiblichkeit umspülen, umleckte Inseln, die aus einem Eiszeitalter und anderen Geschichten ragen. Ich schwimme auf die Landzunge zu. Sehe noch den Gletscher in der Grotte, den Eispalast, der in Wolken aufgeht. Der Himmel hängt tief und schwebt schwer über den Feldern. Der Mohn wiegt den Kopf aus rotem Plissee. Immer braut sich was zusammen in den Bildern, sei es das Wetter, sei es dieses Döllersheim, sei es die Farbe. Zwei Bikinimenschen im Hof der Ruine, die wieder als Ruine erhalten werden muss, um ihre Oberfläche von Innen aus betrachten zu können. Was bedeutet uns das?
Deutsche Offiziere des neunzehnten Jahrhunderts, mit dem Dreck vom Schlachtfeld an den Stiefeln, sitzen am Abend vor der Belagerung von Paris im entmenschten Schloss und spielen nobel Zivilisation (6). Die Kopflosen. Hände liegen auf den Tasten des Klaviers. Die Sintflut türmt sich über dem Schloss, wogegen das Feuer züngelt. Geschichte, die keinen Sinn macht. Weintrauben aus Plastik, Klebeband, Trash und dabei Oberfläche, nämlich der Kultur.
Die Spannung liegt im Noch. Grundierung, Schüttung und dann die Montage mit der Stempelfunktion auf dem Computer. Ein Akt, der eine Skizze und Vorlage ergibt, die dann mit feinen Pinseln gemalt wird, um detailgenaue Übergänge zu fassen und sie so weich zu entfalten, dass der Betrachter in eine Art Rückfluss gerät, weil ihn die Präzision beschäftigt, mit der jede Falte ausgeführt wird. Durch den scheinbaren Zufall gelangt er in die Übersetzung, abstrakt zu denken, was gegenständlich gemalt ist, um zur eigenen Deutung und Komposition zu finden.
Die Begegnung der zwei Bikinimenschen gerinnt zum finalen Augenblick in der Ruine. Dort standen wir wie ausgestanzte Außerirdische herum, oder Urtiere, Menschen im Hof. Die Mauern zerborsten und aufgelassen, geronnen zu einer immer langsamer werdenden Zeitlupe des Verfalls. Oberfläche segnet den Blick, oder umgekehrt, zähflüssiger wird er, immer langsamer. Dieser Prozess versetzt in Unruhe, oder ist es die Tatsache, dass die Integrität dieser Körper an jenem Ort, von wo Körper einst vertrieben und umgesiedelt worden sind, ein Aggregatzustand der Erinnerung noch einzulösender Menschlichkeit ist? Das Verfaulen eines Apfels zeigt nicht das Verfaulen eines Apfels, es zeigt die Oberfläche eines verfaulenden Apfels in einem Augenblick, der nicht weitererzählt wird (7). Faltenbildungen, Stoff, Obsthaut. Quellwolken, Schimmel, Pech. Appetitlicher Eiter, der ins Grün des Weltzeitigen quillt, zerknitterte Metallabfälle nebst zerknülltem Papier- alles wird in weiche Übergänge gegossen- so hält Maderthaners Kunst Kultur fest. Der Nagel des ausgestreckten Zeigefingers ist schwarz lackiert (8). Gott ist Oberfläche und der Apfel ein Ball. Die Ordnung der Welt ist ein Geschlängel. Der Augenblick ist ein Umriss des Flüssigen. So schlängeln sich die Erzählungen in den Bildern und verwandeln Versatzstücke einer Bühne in Komposition, die töst, braust, quillt, rauscht knickst, knackst, wächst, sickert, leuchtet. Die Stänkerdirne hat kein Auge (9). Die Vase dafür Henkelohren. Reifeprüfung heißt das größte Bild. Was wird zur Reife gebracht?
Nass in nass vertreibt der Pinsel Farbschichten ineinander, hebt die Grenzen auf.
Das Sehen zerlegt die Ruine und verfugt sie zu Klüften und dem Buschwerk, dem die zwei Bikinimenschen gegenüberstehen, die aus fälschungssicherer Schüttung aufgetaucht im Gespräch über dem Stausee die Geschichten aus versunkenen Dörfern erdichten.

Wien, Juli 2014

  • (1) Analyse im Stehen
  • (2) Trick
  • (3) Fehlproduktion
  • (4) Baselitzen
  • (5) Milchkrokodil
  • (6) Winterreise
  • (7) Dokumenta Tiefenbach
  • (8) Reifeprüfung
  • (9) Stänkerdirne