Abstraktion und Virtuosität
It don´t mean a thing if it ain’t…
von Michael Wörgötter

Virtuosität und Abstraktion sind Begriffe, die einem in Kunsttexten selten nebeneinander stehend begegnen. Virtuosität entstammt einer Begriffswelt der Vormoderne. Sie ist exklusiv, also keine integrative Position und letztlich ein unreduzierbares und nicht zu verallgemeinerndes Phänomen. So gesehen ist Virtuosität eine Art Antipode der Abstraktion. Dass, und wie die beiden trotzdem vereinbar sind, ist die Überraschung an Franziska Maderthaners Gemälden der letzten Jahre.

Um exemplarisch an eine ihrer jüngsten Arbeiten heran zu gehen, möchte ich mit ihrem Bild “U.S.Archeology.“  beginnen.
Wir sehen zwei tanzende „Torsi“ der frühen amerikanischen Swing-Ära. Die Vitalität und kulturelle Strahlkraft jener Zeit malt sie eingewoben in eine Umgebung ortloser Durchdringungen und Verschmelzungen. Die polymorphen Farbwelten sind rundum selbst höchst vital und heben das Tanzpaar in eine Sphäre abstrakter Kraftfelder.
Es ist ein Tanzen in unüberschaubaren Farbnuancen und Schattierungen zwischen Hell und Dunkel. Die mit der Umgebung verschmelzenden Körper bewegen sich in einer abstrakten Welt aus Verheißungen und Bedrohungen. In anderen Worten: Dieses Bild ist eine Darstellung heutiger Seinswirklichkeit.
Und obwohl sich in diesem Bild beide als Rampensauen hervortun, erscheint die klassische Unvereinbarkeit von Abstraktion und Gegenständlichkeit wie nie gewesen. Man könnte sich nun damit begnügen, dass gute Malerei einfach über den Abgrenzungszwängen von Begrifflichkeiten steht, würde dabei aber Wesentliches übersehen. Dazu später mehr.

Vorerst einige assoziative Notizen zur Verbalisierbarkeit von Malerei und Abstraktion.

Die vielen –Ismen der klassischen Avantgarde (Kubismus, Expressionismus, Suprematismus, Futurismus etc.) bezeugen die Schwierigkeiten, eine jeweils adäquate Sprache für diese neuen Formen der Kunst zu finden. Die Maler jener Zeit haben hart dafür gekämpft die Malerei selbst als Sprache zu etablieren. Aus meiner Sicht bearbeiteten sie ihr Medium als Feld von Möglichkeiten neuer Formen der Kommunikation jenseits etablierter Schlussfolgerungen. Die über Kunst schreibende Zunft hatte es da natürlich schwer irgendwie mit zu halten.

Es ist wesentlich leichter, ein neues Label oder eine neue Stilrichtung zu benennen, als etwas en détail zu beschreiben, das im Kern auf Transverbales zielt. Transverbal bedeutet auch deutungsoffen, variabel, instabil, vorläufig, temporär und was man sonst noch dieser Begriffsfamilie zuordnen mag. Sich jenseits semantischer und syntaktischer Axiome verständigen zu wollen erscheint hier als konstituierende Gründungssehnsucht der Moderne und ist zugleich Ausdruck ihrer Verlorenheit im Neuen. Moderne bedeutet permanenter Aufbruch. Fragen nach möglicher Ankunft sind tabu. Damit sind auch Fragen nach der Qualität von Kunst und Leben aus dem Jetzt eliminiert und in eine eventuelle Zukunft verschoben. Man sieht was man fähig ist zu erkennen. So war es wohl zu einem Gutteil verbale Unbeholfenheit diesen neuen Formen der Kunst gegenüber, die den Begriff Abstraktion ins Kunstfeld brachte. Aber der Bruch mit dem als belastend empfundenen kulturellen Erbe konnte damit symbolisch vollzogen werden und verhalf dem „Neuen“ ganz allgemein zu freier Fahrt.
(Abstraktion war also von Anfang an kein „sauberer“ Begriff und vielleicht sind es gerade die begrifflichen Unreinheiten, die den Kunstdiskurs konstituieren und befruchtend am Leben halten.)

Nachdem also vor über hundert Jahren das Zauberwort Abstraktion in Kunstkreisen die Runde machte, hätte man sich fragen können, ob mit der Verengung des Begriffes Abstraktion auf eher vage Umschreibungen von Reduktionsleistungen wirklich alles angesprochen werden kann, was damals an Neuem hervortrat. Es wäre ebenso möglich gewesen, Abstraktion nicht nur als eine Frage mehr oder weniger gelungener Reduktion zu sehen, sondern Abstraktion auch als eine Frage von Komplexitätsbewältigung zu begreifen.
Ein Vorteil dieser Herangehensweise hätte darin bestanden, dass Fragen nach der Auffindbarkeit bewältigter Komplexitäten, also Fragen nach dem, was da jeweils wie abstrahiert wird, bei jedem Kunstwerk, das sich der Abstraktion zuordnet, neu gestellt hätte werden können. Zugleich hätte man dann das, was bereits „ordentlich“ abstrahiert wurde, nicht endlos wiederholen müssen.
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Die tausendfache Wiederholung von Abstraktion als Reduktion von etwas, das längst bis zum  Nullpunkt reduziert ist, gerät zur reproduzierten Tautologie. So gesehen wären weniger die Kunstwerke im Zeitalter ihrer Reproduzierbarkeit ein Thema, als vielmehr die tausendfach reproduzierten Tautologien ein Problem.
(Allerdings ist Kunst und nicht zuletzt das Leben selbst eine Art Labor möglicher Variationen. Und es könnte ungerecht sein, Wiederholungen oder nahe beieinander liegende Ähnlichkeiten als Tautologien zu bezeichnen.)

Trotzdem!

Ich empfehle Europa, solange es noch geht, seine immensen Bestände an tautologischer Kunst nach Amerika oder in den „Osten“ zu verkaufen. Dabei würden Milliarden an Schwarzgeld im Epigonenloch des schwarzen Quadrats & Co. verschwinden und könnten doch als reingewaschener, um nicht zu sagen als abstrakter Phönix mit konkreter „Asche“  auferstehen. Das würde Raum in den Museen und Sammlungen schaffen und zugleich Geld für zeitgemäße Kunst, Reflexion oder schlicht Findungen möglicher Weltgestaltung lukrieren.

Zurück zur Geschichte:
Wir sind im frühen 20. Jahrhundert. In der Auseinandersetzung um abstrakte Malerei hat sich bereits früh ein Reaktionsmuster etabliert, das sich bis heute mit schlichter Vektorenbestimmung zu begnügen scheint. Man sieht Abstraktion und fragt: Geht es in Richtung Rousseau und Freud oder in Richtung Malewitsch, Loos und frühem Wittgenstein etc. Das Publikum ist aufgefordert Abstraktion als Weg der Erleuchtung in unerforschte Tiefen purer Ursprünglichkeit oder in bislang unerreichte Höhen reinster Reinheit zu begreifen.

Nebenbei erwähnt erklärt sich vor diesem Hintergrund der Charme der Pop Art, der darin besteht, den Ball einfach flach zu halten. Nicht Überhöhung oder Vertiefung, sondern Verdoppelung und Verflachung sind ihr Prinzip. Dieser Ecke ist auch ein Großteil der heutigen und höchst gehandelten „Abstrakten“, die Jerry Saltz als Zombie-Formalismus oder visuelle Fahrstuhlmusik erwähnt, zuzuordnen. (Leseempfehlung: www.monopol-magazin.de/blogs/der-kritiker-jerry-saltz-blog)

Malewitsch schreibt: „Als ich 1913 den verzweifelten Versuch unternahm, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien,…. Es war kein leeres Quadrat, das ich ausstellte, sondern vielmehr die Empfindung der Gegenstandslosigkeit.“

Damals konnte man offenbar noch denken, Abstraktion sei irgendwie nicht ganz von dieser Welt.

Der Abstraktionsgrad heutiger Lebensrealität hat die Abstraktionsvorstellungen von einst  gesprengt. Abstraktion lässt sich nicht mehr auf eine vertikale Sehnsuchtsachse zwischen  Überhöhtem und Verborgenem festnageln, sondern erscheint real als alltägliche und umfassende Explosion abstrakter Wirkungen und Möglichkeiten. War früher Abstraktion noch ein idealisierter Projektionsraum für gebildete Eliten, so empfindet mittlerweile die Mehrheit Abstraktionen wie Bildbearbeitung, globalisierte Finanzwirtschaft, Bio-, Nano-, Kommunikationstechnologie… bis hin zu privaten und intimsten Vernetzungssystemen als gegeben und real.
In weitesten Teilen der Kunstwelt bezeichnet man trotzdem unverdrossen Werke als abstrakt, die sich von der gegenständlichen Sichtweise entfernen, bis hin zur völligen Abwesenheit eines konkreten Gegenstandsbezugs. Was aber, wenn die völlige Abwesenheit eines konkreten Gegenstandsbezugs, wie etwa im globalen Derivatenhandel üblich, plötzlich selbst aktiv wird und Realitäten schafft?
Wollte Malewitsch noch lediglich die Kunst vom Gewicht der Dinge befreien, so ist es mittlerweile ganz anderen „Abstraktionisten“ gelungen, sogar große Teile der realen Welt vom Gewicht der Dinge zu „befreien“.
In einer Zeit, in der Abstraktion Realitäten schafft, hat sie nicht nur ihre einstige Unschuld verloren, sondern wird selbst zum Täter. Somit ist Abstraktion gegenständlich geworden. Und Franziska Maderthaner zeigt in ihren Bildern Abstraktion als Akteur. Um diese epochale Wandlung dessen, wofür Abstraktion einst stand, und was sie heute bedeutet überspitzt zu formulieren, könnte man sagen: Nicht mehr die konkrete Malerei ist abstrakt sondern die Abstraktion selbst ist konkret geworden.

Mit den Mitteln abstrakter Kunst allein lässt sich die heutige Gegenständlichkeit von Abstraktion nicht darstellen. Systemtheoretisch gedacht stellt sich die Frage, welche Außenposition die Abstraktion beziehen könnte, um sich selbst als Objekt in Frage stellen zu können.

Franziska Maderthaner kommt als Malerin vom Gegenständlichen und hat die dafür notwendigen Techniken wie kaum jemand sonst verinnerlicht und perfektioniert. Daher ist es ihr möglich, sogar Abstraktion als gegenständlich zu erfassen und auf Leinwand zu bringen. Die Art und Weise, wie sie Gegenständlichkeit und Abstraktion behandelt, dergestalt, dass das eine jeweils für das andere einen Referenzraum bildet, habe ich so noch nie gesehen.
Sie sagt: “Ich denke aus der Produktion.“ Das bedeutet ein Denken mit Rückkoppelungen an Erfahrungen des Übens. Üben weist über den Moment hinaus. Nach dem Üben kommt das Vergnügen, aber nur in seltenen Fällen wird daraus Virtuosität.

In diesem Zusammenhang möchte ich kurz an Jimi Hendrix erinnern.
Ein Virtuose, der nicht nur Rhythmusgitarre und Soli gleichzeitig spielen konnte, sondern auch ständig mit neuesten Geräten der Soundmanipulation experimentierte. (Wiederum nebenbei erwähnt: Er wurde von seinen schwarzen Zeitgenossen nie wirklich akzeptiert. Sie misstrauten seiner Virtuosität. Man könnte meinen er erschien ihnen als Mozart im Wolfspelz sozusagen.)
Hendrix verbat seinen Tourtechnikern defekte Tonabnehmer, Verstärker, Wah-Wahs etc. perfekt zu reparieren. Er wollte auf die Bühne gehen und nicht genau wissen, wie alles klingen wird.

Wahre Virtuosität zeigt sich im Umgang mit Improvisation. Da trennt sich Kunst von Strebertum. Virtuose Künstler greifen ins Volle ihrer Erfahrungen und lassen sich gerne von Überraschungen verführen. Sie haben Freude an Komplikationen, denen andere lieber aus dem Weg gehen. Das ist Denken aus der Produktion. Franziska Maderthaners malerische Virtuosität in Verbindung mit ihrer Auffassung von Abstraktion spannt einen beeindruckenden Bogen von den Alten Meistern in unsere Gegenwart und wohl auch darüber hinaus.