Ein Schaukampf zwischen Rausch und Bild
von Robert Pfaller

Der philosophische Mensch hat sogar das Vorgefühl, dass auch unter dieser Wirklichkeit, in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liege, dass also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauer bezeichnet geradezu die Gabe, dass Einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge als blosse Phantome oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer Befähigung. Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für das Leben. (Friedrich Nietzsche, Geburt der Tragödie, § 1)

01
Ein auffälliges Merkmal der Malerei, insbesondere derjenigen, die sich mit dem Verhältnis von Gegenständlichkeit und Abstraktion beschäftigt, ist ihr geschichtsphilosophischer Zug. Kaum jemand kann spätestens seit Ende des 2. Weltkrieges jemals malen, ohne sich zu fragen, ob nicht das Ende der Malerei schon erreicht sei; ob die gegenständliche Malerei bereits ein für alle Mal überwunden oder andererseits die abstrakte Malerei unmöglich geworden sei. Die eigene Produktion immer sofort am Gesamtverlauf der Kunstgattung zu messen; niemals zu malen, ohne sich zu fragen: Wohin geht die Malerei? – dies ist ein eigentümlicher Imperativ dieser Praxis, der sich doch einigermaßen von der eher ruhigen Selbstgewissheit des eigenen Tuns in Bereichen wie Rauminstallation, Performance, Videokunst oder Fotografie unterscheidet.
Diesen geschichtsphilosophischen Zug teilt die Malerei mit einem gewissen Teil der Philosophie. Dort, wo Philosophie als eine Wissenschaft oder als eine den Wissenschaften analoge Praxis mit einem eigenen, ihr eigentümlichen Gegenstand begriffen wird – bei den Philosophen der großen Systeme wie Kant oder Hegel -, sind die Verfasser immer auch stark mit der Frage nach der Stellung des eigenen Vorstoßes innerhalb eines Gesamtverlaufs der Philosophiegeschichte beschäftigt. Wo hingegen der Philosophie kein eigener Gegenstand zugestanden wird, etwa bei Ludwig Wittgenstein oder bei Louis Althusser, taucht meist die Frage nach der Beendigung des Unternehmens auf: Läßt sich die Philosophie ein für alle Mal mit einem geschliffenen Rasiermesser wie zum Beispiel dem „Tractatus logico-philosophicus“ für unsinnig erkennen und als überflüssig gewordenes Anhängsel menschlichen Denkens wegoperieren?
„Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit“, bemerkt der späte Ludwig Wittgenstein – und auch in dieser späten Formulierung zeigt sich wieder sowohl das medizinische Gefasste der Philosophie als auch die Idee ihres notwendigen Verschwindens. Die Philosophie hat keinen eigenen Gegenstand und kein eigenes Problem; vielmehr ist sie das Problem und alles was sie tun kann, ist dort, wo sie Verwirrung und Grübelzwang angerichtet hat, diese wieder mit guten philosophischen Medikamenten (zum Beispiel aus der Apotheke der „skeptischen Tropen“) wieder zum Verschwinden zu bringen.

Allerdings zeigt sich in dieser späten Auffassung Wittgensteins auch, dass nicht alle philosophischen Krankheiten ein für alle Mal ausgerottet werden können wie die Pocken, die Beulenpest oder die Cholera. Vielmehr scheinen die philosophischen Plagen wiederzukehren – ähnlich wie der Schnupfen, die Blinddarmentzündung, der Beinbruch, die Zwangsneurose oder die psychische Impotenz. Wenn die Philosophie auch keinen eigenen Gegenstand hat und somit kein Terrain zukünftiger Ausbreitung und Weiterentwicklung, so kann sie darum andererseits auch nicht ein für alle Mal ihr Ende erklären, denn sie wird weiterbenötigt in dem Maß, in dem philosophische Wehwehchen die Menschen weiter quälen. Man wird sich in ihr üben müssen, um für diese wiederkehrenden Beschwerden immer wieder auch gute Gegengifte parat zu haben.
Dies könnte auch ein brauchbarer Gedanke über die Malerei sein: warum sollte nicht auch sie eine Antwort auf niemals endgültig zu überwindende, sondern vielmehr immer wiederkehrende kleine oder größere Probleme – oder aber auch Lustanwandlungen – der Menschen darstellen? Warum sollte sie nicht eine immer wieder notwendig werdende Übung im Umgang mit diesen Störungen oder Reizen sein?

An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet.
(Nietzsche, ebd.)

02
Das Problem oder die Lustanwandlung, die Franziska Maderthaners Malerei bestimmt, kann vielleicht am ehesten als Angstlust beschrieben werden: Angst, dass alles in einer gewaltigen Schweinerei aus Farbe weggespült werden könnte; oder gerade umgekehrt Lust, alles Gegenständliche in den Sog der abstrakten Farbschüttungen geraten zu lassen; Lust daran, dass durch ein wenig Gegenständlichkeit auch noch das Abstrakte eine gegenständliche Bedeutung annehmen könnte; oder umgekehrt, Lust, das Dahinschwinden der Gegenständlichkeit im Abstrakten kurz (oder, in den Vergrößerungen in diesem Katalog: noch kürzer) vor dem endgültigen Kollaps zu bannen.
Der geschichtsphilosophische Ausgangsverdacht hinsichtlich der Überflüssigkeit der Malerei als solcher wird auf diese Weise selbst zu einem innermalerischen Drama verwandelt – er gerät zur Lust an einem gewaltigen Überschuss, einem freudigen, bewusst überflüssigen Tun, das darin besteht, zwei historisch gleichermaßen totgesagte Richtungen der Malerei aufeinander zu hetzen: so scheinen abstrakte und gegenständliche Elemente einander sozusagen gegenseitig mit witzigen Argumenten der Überflüssigkeit überführen zu wollen. Die doppeldeutigen Titel wie „Burenhure mit Kategorienfehler“ oder „Out of the Flat“ versuchen möglicherweise, diesen beiden Seiten der Auseinandersetzung Rechnung zu tragen (gegenständliche Seite: Burenkriege/abstrakte Seite: Arbeiten des Künstlers Daniel Buren; gegenständliche Seite: raus aus dem Mief der Nachkriegswohnung/abstrakte Seite: raus aus der von dem Kunstkritiker Clement Greenberg proklamierten „flatness“ der Malerei). In bezug auf beide Fälle könnte man übrigens auch sagen: einerseits simple Objektsprache, andererseits kunstbezogener Metadiskurs.
„Am Schluss muss alles flach sein;“ sagt Franziska Maderthaner, „es muss eine homogene Fläche rauskommen.“ Dies scheint zunächst vielleicht auf einen Finalsieg der abstrakten Seite über die gegenständliche hinzudeuten. Aber man sollte nicht voreilig schließen. Es wäre ein Fehler, zu übersehen, welcher Natur die figurativen Elemente dieser Malerei selbst meist sind: sie stammen vorwiegend nicht aus der gesehenen zeitgenössischen Wirklichkeit, und oft auch nicht aus der Kunstgeschichte, sondern vielmehr zum Beispiel aus Fotos von Re-enactments historischer Ereignisse – zum Beispiel einer heutigen Nachstellung einer napoleonischen Schlacht in der Nähe von Wien in historischen Kostümen. Die figurativen Elemente in diesen Bildern sind also immer Darstellungen von bereits selbst darstellenden Realitäten. Auch jubelnde Fussballer sind nicht einfach Sportler in Aktion, sondern medial geschulte Darsteller von Jubel. Dasselbe gilt vielleicht sogar auch für die des öfteren wiederkehrenden Motive von Schlafenden: nämlich insofern diese sich so still verhalten, als wären sie ein Bild. „Sie saßen so still da, als ob sie zeigen wollten, wie still sie dasaßen“, heißt es einmal in einem Kriminalroman von Dashiell Hammett. Genau dieses Moment scheint entscheidend in dieser Malerei:  Das Gegenständliche darin referiert nicht so sehr auf Wirklichkeit, sondern vielmehr auf die Bildlichkeit des Wirklichen; auf jenes Wirkliche, das selbst ein Bild – und mithin „flach“ – ist. Somit trifft in dieser Malerei zwar vielleicht Abstraktes auf Gegenständliches, aber nicht Flaches auf Körperliches; sondern vielmehr matchen sich hier abstraktes Flaches und gegenständliches Flaches in einem schonungslosen, verschwenderischen Gemetzel der Flachheit.

03
Einen der Antriebe ihrer Arbeit beschreibt Franziska Maderthaner als die Sehnsucht, „erst einen Fehler zu provozieren und dann ein Bild zu retten“. Dieses Vorhaben mutet der christlichen Religion zutiefst verwandt an, die bekanntlich auch ihre gesamte Geschäftsgrundlage aus den beiden zusammenhängenden Behauptungen eines ursprünglichen Fehlers sowie einer späteren Wiedergutmachung bezieht. Mithin spielt die Künstlerin in ihrer Arbeit mit der Idee einer (christlich-)göttlichen Perspektive auf ihre Hervorbringungen. Wenn alles bei ihr schließlich flach endet, so gelingt ihr damit möglicherweise sogar mehr als ihrem Vorbild – jedenfalls wenn man dem Jesuiten Blázquez, einer Romanfigur von Manuel Vazquez Montalban, glauben darf. Der arme Blázquez muss im Einsatz gegen imperialistische Unterdrückung mit seinen Gefährten die steilen Abhänge mittelamerikanischer Gebirge überqueren. Dies hat zur Folge, dass für ihn „die Steigungen seine Zweifel an der tatsächlichen Existenz Gottes nährten, der doch schließlich eine flache Welt geschaffen haben könnte.“ In einem Bild von Franziska Maderthaner wären ihm diese Zweifel jedenfalls erspart geblieben.